"Mein Berlin" in tip - Berlins Stadtmagazin Januar 2000.

Der Ball rollte unaufhaltsam Richtung Seitenauslinie. Alle sahen ihm dabei zu, nur Till, der von Beruf Schauspieler war, rannte wie ein Blöder quer über den Fußballplatz dem Ball hinterher.
Tatort Berlin-Mitte, ein Kunstrasenplatz mitten zwischen den Häusern, wo ich mich jeden Mittwoch zwischen 13 und 15 Uhr für zwei Stunden mit einem Haufen Verrückter zum Kampf um den Ball treffe.
Ich stand in Höhe der Seitenauslinie, auf die der Ball zurollte. Es war ein aussichtsloses Unternehmen. Doch Till kam dem Ball auf den letzten Metern gefährlich nah. Vielleicht konnte er's noch schaffen. Noch einen Meter, noch einen halben. Der Ball berührte die Seitenauslinie. Till sprang - und genau in dem Moment, als der Ball mit vollem Umfang über die Seitenauslinie gerollt war, trat Till auf den Ball und drückte ihn mit der Sohle zurück ins Feld. Eine sagenhafte Leistung.
"Aus!" brüllte unser Torwart, Heinz, der Theologiestudent, gehässig über den Platz.
Till drehte sich wutentbrannt zu Heinz um. "Ich weiß, dass es knapp war! Ich weiß sehr wohl, dass es verdammt knapp war, aber du!" Till zeigte mit dem Finger auf Heinz. "Du kannst das von da hinten gar nicht gesehen haben!"
"Trotzdem war der Ball aus!" rief Heinz.
"Halt's Maul!" schrie Till und drehte sich einmal nach links und einmal nach rechts. "Das können nur er!" Damit meinte er mich. "Und Achim gesehen haben!" Damit meinte er den kleinen stämmigen Brettartisten aus unserer Mannschaft, der auf der anderen Seite des Spielfeldes ebenso wie ich auf Höhe der Seitenauslinie stand.
"Achim, war der Ball aus der oder nicht?" fragte Till.
"Aus," sagte Achim trocken.
Till drehte sich zu mir um. "Und was sagst du?"

Aus irgendeinem Grund musste ich an Anne, die Vermieterin in meiner WG, denken, heute morgen, wie sie beim Frühstück plötzlich aufsprang, sich mit dem Rücken zu mir drehte, die Beine spreizte und mich durch ihre gespreizten Beine verkehrt herum fragte: "Sieht man da was?"
Anne trug an diesem Morgen ein enges graues Sommerkleid, das kurz unter ihren Arschbacken abschloss. Was sah ich jetzt wohl? Ich meine, was lief hier ab? Anne wollte von mir wissen, ob ihr Kleid zu gewagt war? Sie hatte gleich einen wichtigen Termin. Behauptete sie.
Anne behauptete auch immer, dass sie nie einen Slip trug. So wie es aussah, hatte Anne wirklich einen wichtigen Termin, nämlich bei der Polizei, weil sie neulich nachts, als ich diese Schreie aus ihrem Zimmer hörte, doch jemand umgebracht hatte, mit einem Eispickel.
Sieht man da was?" Anne schaute mich immer noch verkehrt herum durch ihre gespreizten Beine an. Ihr Mund stand lächelnd offen. Ach nee, das war gar nicht ihr Mund.
"Was heißt sehen?" fragte ich, "das heißt im Prinzip sieht man nur da was, wo man gar nicht hingucken soll."

Diese Art der Dialektik hatte ich mir von Nils, meinem jüdischen Freund aus Russland, angewöhnt. Seiner einzigartigen Dialektik verdanke ich auch, dass ich in einer der bittersten Stunden meines Lebens noch was zu lachen hatte: nach meiner Meniskusoperation.
Ich hatte vorher eine Rückenmarkspritze bekommen, und als ich wieder auf meinem Zimmer lag, war ich immer noch von der Hüfte abwärts gelähmt. Ich fasste zwischen meine Beine, und das fühlte sich an, als ob ich eine lauwarme Bockwurst in der Hand hielt.
Da kam Nils rein. Er fragte mich, wie es geht? Und ich jammerte über meine furchtbaren Kopfschmerzen, die ich vom Nachlassen der Narkose hatte.
Das war sein Stichwort. Nils kennt alles, was du ihm erzählst. Er war in Sibirien, in Afghanistan, hat Menschen getötet, er ist durch die Hölle gegangen. Erzähl ihm nichts, er hat alles schon erlebt, nur viel schlimmer.
"Was heißt Schmerzen?" sagte Nils, "das heißt, im Prinzip kenn ich ganz genau."
Und dann erzählte er mir von seinen 500 Knochenbrüchen, und wie er mit seinem Gipsarm damals seine Freundin nur noch in einer Stellung bumsen konnte, nämlich im Stehen von hinten auf dem Küchentisch, so dass er sich mit seinem gesunden Arm abstützen und den Gipsarm auf ihren Rücken legen konnte.
Nils stellte die Szene für mich nach, während ich mit meiner Bockwurst zwischen den Beinen unter der Decke lag.
"Verstehst du, nur so." Nils stützte einen Arm in der Luft auf, während er sein Becken vor und zurück bewegte. "Anders ging nicht," sagte er und lachte ganz fürchterlich dreckig bei dem Gedanken daran.
Soviel zu der Dialektik meines jüdischen Freundes aus Russland. Im Krankenhaus hatte ich übrigens gelegen, weil ich mich beim Fußball verletzt hatte.

Mein Stichwort: Zurück aufs Spielfeld: Die alles entscheidende Frage: War der Ball aus oder nicht?
"Was heißt aus?" sagte ich. "Das heißt, im Prinzip hast du einen Riesen-Sprint hingelegt, und es war verdammt knapp, aber der Ball war leider im Aus."
"Danke," sagte Till. Dann drehte er sich zu Achim, zeigte mit dem Finger auf ihn. "Und für dich hoffe ich, dass du den Ball wirklich Aus gesehen und nicht nur Aus gebrüllt hast, weil Heinz Aus gebrüllt hat!"