Felix Mennen: "Du lebst ganz und gar über mir. Ein Liebeslied"

"You're living all over me" ist das zweite Album der Rockband Dinosaur jr., das Cover zeigt siamesische Zwillinge, Rücken an Rücken, an den Hinterköpfen zusammen gewachsen. Während der eine zum Himmel schreit, trägt der andere seinen Bruder wie eine Last. Bonn, Ende der 80er: Auf der Suche nach einem neuen Gitarristen treffen die Zwillinge Tobias und Torsten auf die talentierte und schöne Nana. Schlagzeuger Tobias, der sich in sie verliebt, bekommt von ihr eben dieses Album geschenkt, das die Stilrichtung für die Musik der drei vorgeben soll. Als Tobias das Plattencover sieht, glaubt er sich und seinen Bruder zu erkennen. Nur wer ist wer von beiden?

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Josef Haslinger, Bestsellerautor von "Opernball" und Lektor von "Du lebst ganz und gar über mir",
über den Roman:

Ein Liebeslied?

Liebeslieder werden zuhauf produziert. Sie sind zweifellos die populärste Form von Lyrik. Jene kalifornische Radiostation, die ihr Programm rund um die Uhr mit Love-Songs gestaltet, wird so schnell nicht in Not kommen. Das darin ausgedrückte Gefühl wird gerne nachvollzogen. Die Metaphorik der Liebeslieder ist in die Alltagssprache übergegangen. Man denke nur an das Wort Herz. Ein Organ, das tatsächlich nur bei Überlastung oder Missfunktion zu spüren ist, wurde zum zentralen Empfindungsorgan der Liebe stilisiert. Zeitgenössische Dichter stehen mit populären Formen häufig auf Kriegsfuß. In Zusammenhang mit Liebe würde ihnen das Wort Herz nicht über die Lippen kommen. Und wenn doch, dann nur in ironischem Zusammenhang, als Zitat aus den Niederungen der Alltagskultur. Felix Mennen aber beendet sein Werk mit dem Satz: "Es steht ein Grab in meinem Herzen, und wenn es Winter wird, Schnee fällt tief darauf." Auch das ist ein Zitat. Aber die Erkenntnis bringt nichts, weil der Erzähler ausgerechnet das Wort Herz hineingemogelt hat. Hier stellt sich offensichtlich einer quer.
Das Lied, so sagt man, hält sich an strengere ästhetische Gesetze als ein Roman. Es folgt metrischen Formen, kennt den Vers, die Strophe, den Refrain und oft genug auch den Endreim. In der Prosa von Felix Mennen sind die Kapitel überschrieben mit Begriffen wie Intro, Strophe, Intermezzo und Solo. Auch wenn man diesem aus der Musik übernommenen Gliederungsschema eine inhaltliche Strukturierung zuordnen kann, ist die Prosa damit noch kein Lied. Sie ist ein Roman, wenngleich einer, der sich abgrenzen will, der ein ästhetisches Signal setzt. Während der zeitgenössische Roman immer stärker aus kohärenten Formen hinausstrebt, ja selbst der durchgängigen Erzählerstimme misstraut und an ihre Stelle ein multiperspektivisches Patchwork setzt, orientiert sich Felix Mennen bewusst wieder am traditionellen Modell der Geschlossenheit. Was am Beginn eröffnet wird, und sei es die Symbolik eines Traumes, darf in der weiteren Folge nicht einfach verloren gehen. Motive die aufgenommen werden, finden im Verlauf des Geschehens immer neue Nahrung, immer neue Wendungen. Dabei ist der Roman keineswegs geschwätzig. Im Gegenteil, er folgt unprätentiös und nüchtern den Szenen einer Liebesgeschichte im subkulturellen Milieu einer Rockband in den späten achtziger Jahren. Es liegen Splitter von Märchenhaftem in diesem Roman. Nicht im Sinne eines übernatürlichen oder wunderbaren Geschehens, vielmehr in der Erwartungshaltung und im Horizont des Ich-Erzhlers. Der hat keinerlei Ambition, anderen Leuten die Welt zu erklären. Er gewinnt seine Glaubwürdigkeit, indem er seine Geschichte exakt als der erzählt, der er ist: Als Schlagzeuger in einer Rock-Band, der sich nicht mit Philosophie, Literatur oder gar Politik beschäftigt, sondern mit Pop-Songs und den darin artikulierten Träumen vom Glück. Es sind die Ausdrucksweisen dieser Kultur, die dem Roman den formalen Rahmen geben, seinem Erzähler den Ton. Die Enttäuschung, die am Ende dieser Geschichte steht, will nicht analysiert oder aufgearbeitet sein, sie will durchs Land hallen wie der Refrain eines Pop-Songs.
Also doch ein Liebeslied? Ja, könnte man antworten, eines mit anderen Mitteln.

Josef Haslinger