Liebesparade - Textauszug



„Sie will, dass ich tiefer gehe“, sagt Rüdiger.Wir sitzen in der Aktions Galerie. Am letzten dieser hohen Tische. Auf diesen hohen, wackligen Barhockern, auf die man richtig hinaufklettern muss. Gerade habe ich zwei neue Berliner Pilsener geholt – Runde fünf oder sechs.
„Wie...wohin?“ frage ich.
„Das frag ich mich auch“, sagt Rüdiger.
„In sie?“ frage ich. Die Rede ist von seiner Freundin.
„Nein, in mich“, sagt Rüdiger.
„Du sollst tiefer in dich gehen?“
„Genau, ich bin ihr zu oberflächlich. Prost!“ Rüdiger hält mir sein Berliner hin, ich knalle meine Flasche dagegen.
Sommer 1997. Morgen ist die Love Parade – die größte Straßenparty der Welt, die größte Jugenddemonstration Europas, die größte angekündigte Menschenversammlung seit Bestehen der Bundesrepublik – und wir sind jetzt schon so richtig gut drauf! Während ich trinke, schiele ich zu der Rothaarigen schräg gegenüber hinter den Turntables. Sie hat uns schon zweimal nach ner Zigarette gefragt, wobei sie einen leichten Schweißgeruch verströmt hat – vor Aufregung, denke ich –, und ab und zu lächelt sie (so von unten herauf, eine Haarsträhne im Mundwinkel) zu uns herüber. Das kann noch richtig nett werden, denke ich, für mich, Rüdiger hat ja seine tiefer angelegte Freundin.
„Wie kommt sie darauf? Ich mein, ich find dich eigentlich nicht oberflächlich“, sage ich.
„Sie glaubt mir nicht, dass ich bin, was ich bin“, sagt Rüdiger.
„Sondern?“
„Keine Ahnung. Anscheinend denkt sie, ich mach mir die ganze Zeit was vor.“
„Was denn vormachen?“
„Dass es mir gut geht. Na klar, hab ich auch meine Sorgen und Kummer und Angst und Depressionen – aber abgesehen davon, leb ich eigentlich ganz gerne.“
„Und das glaubt sie dir nicht?“
„Sie meint, ich würde einfach nur dichtmachen. Und was ich im Grunde bräuchte, wäre ne Therapie. Aber ich hab überhaupt keine Lust, immer tiefer und tiefer zu gehen. Ich bin diese Find-dich-selbst-Scheiße leid. Es ist ja schön, wenn sie sich jetzt so toll selbst entdeckt. Und das kann sie ja auch gerne in ihren Töpfer- und Jogagruppen bis zum Nirwana machen. Aber warum, um Himmels Willen, soll ich mich damit beschäftigen? Ich verlange doch auch nicht von ihr, dass sie plötzlich die Fußballregeln versteht.“
„Es sei denn, sie will mitgucken“, sage ich.
„Genau“, sagt Rüdiger, nimmt sein Berliner und trinkt. Dann setzt er es wieder ab, greift kopfschüttelnd nach seiner Gauloises-Packung und bietet mir eine an. „Weißte, Ulrich“, sagt er, während ich mir eine Zigarette nehme, „manchmal beneid ich dich echt.“
Ich sehe Rüdiger an, als ob ich ihn nicht verstanden hätte, obwohl ich genau weiß, was er meint, doch ich will es von ihm hören.
„Ich mein“, sagt Rüdiger, „du hast deine Ruhe. Keine nervigen Regisseure, keine dämlichen Kollegen, keine Drehtermine...“ Und keinen Erfolg, kein Geld, keine Daseinsberechtigung, setze ich in Gedanken Rüdigers Aufzählung fort. „Und vor allem keine Freundin, die dich stresst...“ Nur meine Einsamkeit, den Schmerz, die Verzweiflung. „Niemand, der dir auf den Sack geht. Eine größere Freiheit gibt es doch gar nicht!“
Ich nicke, das stimmt, denke ich, meine Freiheit habe ich.
„Ich liebe sie, verstehst du“, setzt Rüdiger wieder an, „aber zu welchem Preis? Endlich hab ich Erfolg, hab genug Geld und will einfach nur mal das Leben genießen, aber jetzt macht SIE mir die Hölle heiß. Plötzlich wird alles, was ich tue, hinterfragt. Ich hab das Gefühl, mich ständig rechtfertigen zu müssen. Das geht mir auf den Sack! Wir streiten uns fast nur noch in letzter Zeit, und im Bett läuft auch schon seit Wochen nichts mehr. Und dann kommt die rothaarige Maus hinter den Turntables hier an und fragt mich zweimal nach ner Zigarette. Hast du’s gerochen?“
„Sie riecht nach Schweiß“, sage ich trocken, weil ich mich frage, wie Rüdiger, nur weil es seine Zigaretten sind, darauf kommt, dass sie auf ihn – und nicht auf mich – stehen würde.
„Sie riecht nach Sex“, sagt Rüdiger. „Sie ist heiß! Aber nein, darf ja nicht. Nur gucken, nicht anfassen. Ich hab sogar ein schlechtes Gewissen. Schon dass ich hier mit dir sitze und Bier trinke, macht mir ein schlechtes Gewissen. Das ist doch nicht normal! Mein Gott, ich bin ein erwachsener Mann. Ich bin Künstler, und kann sogar davon leben. Sehr gut sogar. Deswegen zahl ich auch den Großteil unserer Ausgaben. Ich kümmere mich um die Dinge, die erledigt werden müssen, hol sie von der Arbeit ab, schenk ihr Blumen, lad sie zum Essen ein, sag ihr, dass ich sie liebe – ihr zuliebe, betrink mich höchstens noch zweimal die Woche, nehm sonst keine Drogen, fick keine anderen Frauen, geh nicht in den Puff, verprügle sie nicht – aber ihr ist das alles nicht genug. Sie will mehr, mehr, mehr! Hier noch ein Zugeständnis, da noch ein Zugeständnis, hier noch ein Stückchen Rüdiger und da noch eins. Und wenn nicht, dann darf der kleine Rudi nicht mehr an der Brust nuckeln. Aber ich kann das nicht. Ich mach diesen Scheiß einfach nicht mehr mit. Ich bin doch kein kleines Kind mehr!“
„Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass sie dich so haben will“, sage ich.
„Eben, dann bin ich nämlich wirklich nicht mehr, was ich bin.“ Nachdenklich zieht Rüdiger an seiner Zigarette.
Ich nehme mein Berliner, noch ein guter Schluck drin. Ich mache es leer. „Auch noch eins?“ frage ich.
Rüdiger grinst mich an. Ich halt ihm meine leere Flasche vors Gesicht und wiederhole meine Frage. Rüdiger grinst immer noch, auf einmal langt er ruckartig nach seiner Flasche, setzt sie an den Mund, trinkt, knallt das leere Ding auf den Tisch. „Klar, Mann“, sagt er immer noch grinsend. Und erst wie in Zeitlupe, dann immer schneller, kippt er samt Barhocker nach hinten. Ich greife nach seiner Jacke. Zu spät. Rüdiger knallt der Länge nach vor die Turntables auf den Boden. Ich klettere vom Hocker, gehe um den Tisch und zusammen mit dem großen, blondhaarigen Kellner und der Rothaarigen stehe ich staunend über den reglosen Körper von Rüdiger gebeugt. Er öffnet die Augen, sieht in die Runde, sieht mich. „Ulrich“, murmelt er, „mein Gott, ich lebe noch.“

Es klingelt. Das Telefon. Da, noch mal. Und wieder. Und jetzt geht der Anrufbeantworter an. Ich habe im Flur einen alten Panasonic-AB stehen. Mit großen Kassetten. Der macht immer so einen höllischen Lärm, wenn er anspringt. Den höre ich durch die Tür bis ins Schlafzimmer.
Das geht doch schon den ganzen Morgen so! Ich öffne die Augen: Es ist hell. Aber meinem Gefühl nach noch früh am Morgen. Wer ruft denn so früh hier schon ständig an?
Es piept, meine Ansage ist durch. Ich höre eine verzerrte weibliche Stimme aufs Band sprechen. Kommt mir bekannt vor. Wer ist denn das? Oh Gott, nein! Ich glaub, das ist sie! Meine Liebe. Und jetzt legt meine Liebe auf.
Ich stehe auf. Mein Gleichgewicht suchend, wanke ich aus dem Zimmer in den Flur. Ich drücke auf die Play-Taste des Anrufbeantworters. Die Kassette läuft und läuft zurück. Da hat mir irgend so ein Idiot das halbe Band vollgequatscht.
Endlich macht es KLACK, und die Wiedergabe startet: „Hallo Uli, hier ist Mama! Ich hab jetzt die Telefonnummer von der Frau rausbekommen! Dein Vater hat die Hure unter einem falschen Namen in sein Adressbuch eingetragen! Was sagst du dazu? Ich ruf dich später noch mal an.“
Es piept: „Hallo Uli, hier ist dein Vater. Wo steckst du denn, Junge?“ PAUSE. „Schläfst du etwa noch um diese Uhrzeit?“ PAUSE. „Na... Also... ich... ich hab gehört, deine Mutter hat bei dir angerufen. Und ich will nicht, dass jetzt ein falsches Bild bei dir entsteht. Ruf mich doch mal bitte zurück.“
Es piept: „Hallo Uli“, meine Mutter, „bist du immer noch nicht da?“ PAUSE. „Ich wollte dir nur sagen, dass ich jetzt bei der Hure anrufe!“
Es piept: „Da war wirklich die Hure dran!“ Wieder meine Mutter. „Es stimmt alles, was ich vermutet habe! Dein Vater, die Sau, hat das Geschäft in Siegburg tatsächlich für die Hure eingerichtet. Und das Auto hat die Sau ihr auch überschrieben! Ich ruf noch mal an.“
Es piept: „Uli“, mein Vater, „schläfst du immer noch?“ PAUSE. „Na gut, ich wollte dir nur sagen, das stimmt so alles nicht, was die Mama da erzählt. Ich meld mich noch mal bei dir.“
Es piept: „Es stimmt!“ Meine Mutter. „Ich hab mit der Frau gesprochen! Sie hat alles zugegeben!“
Es piept: „Uli?“ PAUSE. „Du kannst doch nicht den ganzen Tag schlafen, Junge. Ich muss mit dir sprechen. Ruf mich an, wenn du endlich wach bist!“ Mein Vater.
Es piept: „Ich lass mich scheiden! Du musst sofort kommen, Uli! Bevor dein Vater mit der Hure das ganze Geld verprasst!“ Meine Mutter.
Es piept: „Uli, wach auf! Wir müssen dringend miteinander reden!“ Mein Vater.
Es piept: „Hallo, ich bin’s.“ Das ist sie! „Ja... Ich wollt mich nur mal melden. Ich bin wieder in Berlin...“ Ach, du Scheiße! Sie ist wieder da! „Ich wohn im Moment bei Anke. Du kannst mich ja mal anrufen. Ich würd mich tierisch freuen, dich zu sehen. Ich geb dir mal ihre Nummer. Also...“ Sie würde sich tierisch freuen, mich zu sehen. Schön für sie. Und was ist mit mir? Ich habe gerade überhaupt keine tierische Lust, sie zu sehen. Was soll das bringen? Ein großes freudiges Wiedersehen. Ein netter Plausch über die alten Zeiten. Warum sie plötzlich verschwunden ist...
He, he, Moment! Vermutlich will sie nur ihre Sachen wiederhaben! Vielen Dank. Und wenn ich das schon wieder höre: „Hallo, ich bin’s.“ Hat sie keinen Namen? Als ob wir immer noch zusammen wären! Für wen hält sie sich? Glaubt sie, sie kann einfach so wieder in mein Leben platzen? Was will meine Liebe von mir?
Es klingelt an der Tür. Das ist sie! Nein. Unmöglich, sie hat ja gerade erst angerufen. Es könnte der Forst sein. Die fette Sado-Maso-Hausverwalter-Wurst, der seit Monaten versucht, mich und die übrigen Bewohner aus den Wohnungen zu ekeln, damit das Haus endlich renoviert werden kann. Fasst mich wieder an mit seinen ekligen Wurstfingern. Nee, kann eigentlich nicht sein. Heute ist Samstag. Der kommt nicht am Wochenende.
Ich gehe zur Wohnungstür und mache sie auf – keiner da. Doch! Auf der Treppe: ein Mann und eine Frau, billige Klamotten, HUMANA-Look. Sie drehen sich erstaunt um, lächeln, extrem freundliches Lächeln – wollen mir irgendwas andrehen, was Soziales. „Oh, wir wollten schon gehen“, lächelt der Mann, wirft einen Blick zu der Frau, die bereits auf dem Zwischenpodest steht. Sie wendet sich mir zu, faltet die Hände vorm Körper und sieht mich unschuldig an.
Ich sage nichts, verharre in meiner Position, die Hand noch an der Tür.
„Wir dachten, hier wohnt gar keiner mehr“, lächelt der Mann, wirft noch mal einen kurzen Blick zu der Frau, dann setzt er vorsichtig seinen linken Fuß eine Stufe höher. „Wir wollten Sie nicht stören“, lächelt er, „aber wenn Sie vielleicht etwas Zeit hätten...“
Ich stehe vollkommen starr, verziehe keine Miene.
Der Mann sortiert sein Lächeln neu. „Wir würden uns gerne mit Ihnen unterhalten“, sagt er. „Wir sind von den Zeugen Jehovas...“
„Danke, ich bin Antisemit“, sage ich und knalle die Tür zu.
Atheist! meine ich und will schon die Tür aufreißen, um meine Aussage zu korrigieren. Zu gefährlich, die schwatzen dir schwupp die wupp dein ganzes Hab und Gut ab, für’n Appel und’n Ei, und dann schleppen sie dich auf eine Farm, ziehen dir ein Kleidchen an und lassen dich den Rest deines Lebens beten und Unkraut jäten. Nee, denke ich, lass dich bloß auf kein Gespräch mit den Brüdern ein, nicht in deinem Zustand, nicht um diese Uhrzeit.