Von Moritz - Leseprobe



Mensch, wo bleibst’n?


Moritz schaltete den Computer aus, ging zu seinem Koffer, holte frische Wäsche heraus, brachte sie ins Bad, ließ Wasser in die Wanne, dann wollte er nachsehen, wie weit Ole gegenüber auf seinem Balkon mit den Vorbereitungen für die Grillparty war. Er ging ins Wohnzimmer, öffnete das Fenster und sah hinaus:

Auf der Strecke vom Hackeschen Markt bis kurz hinter Moritz’ Fenster waren die Oranienburger Straße entlang überall Absperrungen angebracht, trotzdem war ein Riesenrummel dort unten: Schräg unterhalb von Oles Balkon schraubten irgendwelche hektischen Leute irgendwelche Ständer zusammen – für Scheinwerfer, so sah es fast aus. Und waren da nicht auch Kameras? Was geht denn hier für’n Film ab, dachte Moritz und sah auf Oles Balkon, wo ein junger Mann, den Moritz noch nicht kannte, zusammen mit Ole stand. Sie schraubten auch etwas zu-sammen: einen kleinen Grill.

Es dämmerte, als Moritz frisch gebadet aus dem Hinterhof und mitten ins Rampenlicht trat. Von Scheinwerfern geblendet lief er gegen einen rothaarigen Mann in einem Trenchcoat. Verwundert sahen sie sich an. "Aus!" rief eine männliche Stimme, und jetzt sah Moritz das Kamerateam hinter den Scheinwerfern, die ihn beleuchteten, dann brach lautes Gelächter los. Es kam von Oles Balkon, auf den ebenfalls ein Scheinwerfer gerichtet war. Der Grill qualmte im Spotlight, und fünf oder sechs grölende, junge Männer standen darauf, jeder mit einer Schultheiß-Büchse in der Hand.

Klappe zwei, Action! Ein schwarzer Mercedes kam angefahren, fuhr an dem Balkon vorbei, bremste, setzte ein Stück zurück und hielt vor der Kamera. Ein Mann stieg aus, ging einmal um das Auto herum, während aus dem Hinterhofeingang der rothaarige Trenchcoat-Träger kam und zu dem Aussteigenden rief: "Mensch, wo bleibst’n?" Das war die Szene. Sie musste noch mal gedreht werden. Der eine Schauspieler stieg wieder in den Wagen und fuhr zurück, der andere postierte sich wieder im Hinterhof.

Dieselbe Szene wie eben: Der Mercedes setzte zurück, der Mann stieg aus, der andere kam aus dem Hinterhof. In dem Moment rief Ole vom Balkon: "Mensch, wo bleibst’n?" Ärgerlich sahen das Kamerateam und die Schauspieler zu dem Balkon, auf dem eine Horde lachender junger Männer mit Schultheiß-Büchsen in den Händen stand.

Als der schwarze Mercedes zum vierten Mal gehalten hatte, der Mann ausgestiegen war, und der andere, aus dem Hinterhof eilend, sein Sprüchlein aufsagen wollte, riefen vom Balkon aus alle durcheinander: "Wo willst’n hin? Wo warst’n? Wo kommst’n her? Was machst’n? Wen suchst’n? Wer bist’n?"

Die Regieassistentin trat unter den Balkon und erklärte den sie über das Geländer angrinsenden jungen Männer, dass sie bei allem Respekt für deren Humor, es nett fände, wenn sie beim nächsten Mal nichts mehr dazwischenrufen würden. "Geht in Ordnung", sagte Ole "reicht jetzt auch." Doch mittlerweile hatten sich immer mehr Passanten, die eigentlich als kostenlose Statisten dienen sollten, rund um den Drehort versammelt und beobachteten das Geschehen. Der schwarze Mercedes kam angefahren, hielt, der Fahrer stieg aus, sein Kollege kam aus dem Hinterhof, lief auf den Mercedes zu, sie begrüßten sich, dann sahen sich die beiden Schauspieler fragend an. Irgendwas fehlte. "Mensch, wo bleibst’n?" rief ein pickliger Junge aus einer Gruppe von Baseballkappenkids, der Startschuss für seine Kumpels: Sofort flogen wieder alle möglichen Fragen durch die Luft.

Drei Cuts später hatte sich eine riesige Menschentraube um den Drehort versammelt. Die Jungs mit den Baseballkappen hatten entlang der Anfahrtsstrecke ein Spalier gebildet. Als der schwarze Mercedes angefahren kam, begleiteten sie ihn grölend mit einer La Ola. Es war seine letzte Fahrt, die Schauspieler konnten nach Hause gehen, und das Kamerateam packte seine Sachen zusammen.